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Manchen Gesang geschehen lassen
Jahrestagung 2016

Anfang April trafen sich Mitglieder und Freunde des Arbeitskreises für deut­sche Dichtung wieder in der Waldklause des Jugendrotkreuzhauses bei Ein­beck. Die Einquartierung erfolgte in diesem Jahr unter ungünstigen organisa­torischen Bedingungen, da die Herberge eine Überlastung mit Gästen voraus­setzte, welche dann aber völlig ausblieb. Nur wenige übergewichtige Schüler bummelten durch das Gelände. Mühelos hätten dort alle vor Ort unterkom­men können. Die nötig erachtete, zuletzt aber doch unnötig gewesene, Un­ter­bringung von Mitgliedern und Referenten in Ferienwohnungen am anderen Ende der Stadt trübte etwas die Gemeinschaftlichkeit am Morgen und zum Ausklang der Tage. Denn es ist ein Unterschied, ob sich jeder nach Belieben und diskret auf sein Zimmer zurückziehen mag oder aber durch das um­ständ­liche Bringen und Holen einzelner Unmotorisierter jähe Schneisen in die abendliche Geselligkeit gerissen werden, so wie die Betroffenen auch zu mor­gend­lichem Gesang und gemeinsamem Frühstück vermißt werden. Einige Teil­nehmer verpaßten auf diese Weise sogar Beiträge, denen sie unbedingt bei­zu­wohnen beabsichtigten. Auch wurden Umstellungen im Programm erforder­lich. Im großen und ganzen verlief aber alles pünktlich, reibungslos und voll­ständig.
Nachdem am Freitagnachmittag alle angekommen und eingesammelt waren, machte Marcus Röthig den Anfang mit seinem Vortrag über die Dichter Ost­preußens. Der Mittzwanziger aus Dresden ist fast der jüngste im Kreis der Versammelten. (Nahezu das gleiche Alter hatte übrigens Erich Hannighofer als er die Worte für das zitierte Ostpreußenlied dichtete.) Seine Ausführungen über die Bandbreite und Vielfalt des geistigen und ästhetischen Lebens im öst­lichsten Deutschland von Simon Dach bis zur Vertreibung berührten die Zuhörer um so mehr, als es erstaunlich und nicht selbstverständlich ist, daß sich die nachwachsende Generation diesem Thema zuwendet. Damit wurde ein schönes Band zwischen den älteren Mitgliedern und den Neuzugängen im Arbeitskreis geknüpft. Der Referent ist der Bedeutung der Herkunft seiner Großmutter aus dem untergegangenen Dorf Erlengrund bei Gumbinnen erst jüngst innegeworden, und er hat diese Erfahrung durch Reisen in die Gegend inzwischen vertieft. Besonderes Interesse erweckte die Kunde von der Zunei­gung der heutigen russischen Bewohner des Landes für die Dichtungen von Wiechert und Miegel. In russischen Übersetzungen sind diese gegenwärtig und wirken damit, nach Röthig, »als Brückenbauer über den Verwerfungen der Geschichte«. Hier hatten die Zuhörer einiges aus eigener Erfahrung er­gän­zend beizutragen. Die Bedeutung von Landschaft, Heimat und Volkston für die Dichtung überwölbte die gesamte Tagung. In Umstellung des Pro­gramms schloß sich der Vortrag von Sebastian Hennig über die Wieder­kehr des deutschen Volks und die Frage nach seinen Dichtern an. Auf der Grund­lage einer beobachtenden Teilnahme an den Spaziergängen der Pegida in Dresden versuchte er das Verhältnis zwischen den Stimmungen im Volk und deren Sprachsuche zu erfassen. Äußerungen spontanen Volkswitzes, Bezug­nah­men auf die dichterische Tradition Deutschlands und die Identität durch Sprache wurden beleuchtet, aber auch das Verhalten der Literaten und Dich­ter und die Reaktion der Versammelten darauf. Sein Fazit war grundsätzlich hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch verstiegen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen las [Name aus Rechtsgründen entfernt] aus seinen jüngst er­schienenen zwei Bänden mit Sonetten. Dazu schien die Abendsonne lockend ins Fenster. Das Wetter blieb dem Treffen auch während der folgenden Tage hold. Der Autor pries das Sonett als Lehr- und Lerngedicht. Makellos erfüllt er dessen Anforderungen als Lehrling und Schulmeister. Die persönlichen Gedichte, eigentlich Liebes- und Lebens­sonette, vermochten das Publikum mit ihrem kühnen und knappen Zugriff am stärksten zu fesseln. Den Vortrag seines liebsten Sonetts, das zugleich an die Liebste gerichtet ist, mußte der Dichter auf den ausdrücklichen Wunsch einer Zuhörerin wiederholen. Der Komponist Christian Glowatzki sang und spielte zum Ausklang des Abends einige seiner neuen Volkslieder vor. Das weitläufige Jugendrotkreuzhaus konnte kein Klavier aufbieten, darum mußte ein elektrisches Keyboard aus Franken herbeigefahren werden. Zusätzlich waren einige akustische Instrumente aus Berlin angekündigt, leider lag die Spielerin mit hohem Fieber im Bett. Glowatzki erzählt von der freudigen Wahr­nehmung, die seinem allgemein und äußerlich als anachronistisch gelten­den Streben, auf die Wirklichkeitsprobe hin von den unterschiedlichsten Sei­ten und ganz spontan zuteil wurde. Wie er die Musik aus den Versen gezogen hat, so treffen seine Lieder nun ebenso erwünscht wie unvermutet auf viele offene Ohren und sangesfreudige Kehlen. Er bekennt, in seinem Leben noch nie soviel Gedichte gelesen zu haben, wie während der jüngsten Zeit des Komponierens. Wahre Kunst sei, »daß sich die Sprache in die Form legt, ohne daß man die Form merkt.« Tatsächlich sind die Lieder kunstvoll und niemals gekünstelt. Dem Zweifel einer Zuhörerin, ob es sich denn nicht eher um Kunstlieder als um Volkslieder handele, kann er aus der praktischen Erfah­rung entgegenhalten, daß nach zweimaligem Hören schon ein suggestiver Hang zum Mitsingen aufkommt. Auch jetzt wird gemeinsam eines der Lieder angestimmt, beim Morgensingen konnte der Chronist wegen externer Unter­bringung leider nicht teilnehmen. Der Abend schließt in zwangloser Gesel­lig­keit. Das wenig erhebliche Landheimambiente wird durch die aufge­weckte Laune der Runde an- und aufgehoben.
Der Sonnabendvormittag steht im Zeichen von Natursprache und Landleben. Die Anfänge des geistigen Austauschs zwischen dem Biologen Michael Belei­tes und dem Philosophen Reinhard Falter langen in die achtziger Jahre zu­rück. Über die Systemgrenze hinweg waren sie auf beiden Seiten der Mauer und in persönlicher Begegnung nicht nur praktisch im Naturschutz engagiert. Sie beredeten schon damals gesellschaftliche Alternativen, die heute überle­bens­notwendig erscheinen. In beiden Vorträgen ist der Zusammenhang zwi­schen Sprache und Lebenswelt zentral, einmal ausgehend von den antiken Hellenen und einmal von der ländlichen Welt, von der wir uns seit den sech­ziger Jahren entfernen. Die Nähe dieses Denkens zum Mühen der Dichter seit je ist offenkundig. Es bleibt aber nicht bei der Analyse, die Vortragenden tasten nach einer Lebensform, die im Bewährten gründet und Zukunft hat. Falter stellt in freier Rede seine Philosophie der Struktivität vor, die über der aktiven und passiven Haltung eine Medialform annimmt, die eben nicht entweder erleidet oder bewirkt, stattdessen durch sich geschehen läßt, so wie das Wachsen dem Wesen widerfährt und der Fluß sich nicht nur aus dem Fließen sondern auch aus seinem Ufer ergibt. Michael Beleites zeigt mit einer Fülle von Sprichwörtlichem, daß unsere Kultur eine Landwirtschaftskultur ist, die sich selbst und alles von ihr hervorgebrachte Wertvolle mit der Vernich­tung ihrer Grundlagen aufgibt. Die kleinbäuerlich geprägte Umwelt ist die Be­dingung des menschlichen Lebens, so wie die biologischen Arten Kristallisa­tions­punkte der Landschaft sind. Ein Land ohne Blumen, Schmetterlinge, Hasen und Rebhühner wäre kein Unterschied zu einer zerbombten Stadt. Die Untergrabung der Selbstversorgung sei auf einen Genosuizid ausgerichtet. Als einzigen Ausweg sieht er eine Landwende, die von den Dörfern ihren Ausgang nehmen muß. Auch die unabhängige Umweltbewegung in der DDR hätte nicht allein über das Machbare nachgesonnen, sondern grundsätzlich den richtigen und den falschen Weg bedacht.
Uwe Nolte dagegen kennt nur seinen einen eigenen Weg. Den fräst er sich unbeirrbar durch den Irrsinn und Prunk des Lebens. »Leben, um zu singen, ist schon Sinn genug.« Nolte ist Dichter und Sänger im romantischen Sinn, er bekennt, frühe Prägungen durch Nikolaus Lenau empfangen zu haben. Er ist Dichter und Dichterdarsteller in einer Person, ohne das eine durch das andere zu mindern. Sein Eskapismus ist bergend und seine Weltflucht welterschaf­fend. Er ist jemand, dem man Derbes, sogar Vulgäres nachsieht, weil es ihm nicht aus Geistlosigkeit unterläuft, sondern mit der Begeisterung zugleich ent­fährt. In seinen Versen prophezeit Nolte sich selbst: »Mit goldenen Zangen wird mich die Hölle empfangen«. Sein Leben an der Wolga und in den Tiroler Bergen klingt in den Versen an, aber auch die lastende Lust an der deutschen Sprache und dem unausweichlichen deutschen Sein. Wie die Sprache dem Ruhelosen zur Herberge und das Gedicht seiner Glut zum Ofen wird – das konnte alle entzücken und mitreißen. In der Mitgliederversammlung nach dem Mittagessen wird der neue Vorstand gewählt. Uwe Lammla läßt die Hoffnung auf ein eigenen festen Standort für die künftigen Treffen am Horizont erscheinen. Dadurch könnten Mittel und Kräfte der Mitglieder und Freunde vom Herbergswesen auf geistige und inhaltliche Arbeit verlegt werden. Obwohl seit Jahren fast alle Mitwirkenden auf Honorare verzichten und oft obendrein mit erheblichen Kosten belastet werden, sind die Treffen in Einbeck alljährlich defizitär. Es wird die Aufgabe des neuen Vorstandes in den folgenden Monaten und Jahren sein, dieser Hoffnung den Beigeschmack der Skepsis zu nehmen. Es wurde beschlossen nötigenfalls im nächsten Jahr noch einmal in Einbeck zusammenzukommen, bis ein günstigeres Quartier in Thüringen dem Kreis zur Verfügung steht.
Eine Grußbotschaft des zweiundneunzigjährigen Horst Köhler, der schwer­krank wiederum nicht anwesend sein kann, wird von Uwe Hauben­reißer vor­ge­tragen, der im Anschluß stellvertretend aus den jüngst erschienenen Ju­gend­erinnerungen (»Du alte Stadt«) des gebürtigen Nordhäusers vorliest. Die Vorspiegelungen der Laterna magica, der Lehrer voller Güte und mit Rohr­stock, das Drachensteigen und Hamster­graben lassen die verlorene Welt in großer Erzählkunst wiedererstehen. Die Hochachtung des jüngeren Freundes für den greisen Autor ist in jeder Zeile zu spüren, und sie überträgt sich zwang­los. Durch den eisernen Vorhang blieb es Horst Köhler über Jahr­zehnte erspart, die kläglichen Reste seiner Vaterstadt nach fast vollständiger Zerstörung im Krieg zu sehen. Unbehelligt von einem dort besonders lieb­losen Umgang mit den Trümmern, konnten die frühen Bilder reifen. Diese Läuterung gibt seiner Prosa die Hochherzigkeit, die wir auch aus seinen im Vorjahr erschienen Gedichten kennen. Uwe Haubenreißer kündigt an, daß auch der dritte Band der Werkausgabe noch zu Lebzeiten des Dichters bei Arnshaugk erscheinen wird. Hans-Jörg Rothe liest seinen brillanten Essay über das Preußische und das Faustische. Theodor Storms Schimmelreiter wird mit Nikos Kazantzakis heili­gem Reiter von der Ikone im Kastell zu Kreta verbunden zur Figur eines Miles Christianus, der kommt, um seiner bedrängten Gemeinde beizustehen. Rothe läßt dabei die Zeichen der Dichtung und der Sage sich selbst ausspre­chen und tut ihnen keine ideologische Gewalt an. Er macht nicht passend, was widerstrebt. Dadurch formt er ein anregendes und förderndes Bild aus den Legenden. Christian Glowatzki erläutert an Klangbeispielen die musik­the­o­re­ti­sche Fundierung und das intuitive Vorgehen, in dem er atonale und tonale Wirkungen in den Liedern verbindet. Die Gedichte singen sich ihm zu. In ihrem Text findet er den Anhalt zur musikalischen Form.
Am Sonntag vermittelt Baal Müller mit seinem Vortrag zu Stefan George und den Bündischen vor allem einen Begriff von der stiftenden Glut dieser Be­we­gung, weniger eine Beschreibung der gegenseitigen Bezüge. An solchen nachträglichen Kausalkonstruktionen hat die gegenwärtige Germanistik kei­nen Mangel. Müller erläutert die Bedeutung von Georges Gedichtband »Der Stern des Bundes« und den Maximin-Kult. Für die lebensvolle Darstellung der Urkräfte, die Beschaffenheit jenes ersten Steins, dessen Wurf noch späte Ringe zieht, dafür ist er gewiß der kenntnisreichste Referent. Leider war er durch den knappen Zeitrahmen genötigt, seinen Vortrag am Ende zu kürzen. Seine Wiedergabe von Georges Begegnung mit dem Kosmiker Alfred Schuler, der Schwabinger Bohème zwischen Kult und Karneval und die Rezitation einiger der Eingebungen Schulers waren überaus witzig und erhellend.
Burkhard Jahn gelangt mit der unverkennbaren Professionalität eines Büh­nenschauspielers zu Wort. Mit geradezu einschüchternder Präsenz trägt er seine Gedichte und einige Satiren auf den Kulturbetrieb vor. Durch die virtu­ose Deklamation hindurch, bemächtigt sich der Zuhörer nach und nach der menschliche Ernst von einem geschlagenen und doch nicht niedergerungenen Naturell. Seinem geübten Charme entspricht eine Tiefgründigkeit, welche das Auditorium für ihn einnimmt. Die vorgetragenen Gedichte reichen bis in die siebziger Jahre zurück. Sie lassen den unersättlichen Drang eines beruflich zur Vorspiegelung genötigten Mannes nach einem verbindlichen Inhalt deutlich werden. Zum Abschluß trägt Uwe Lammla einige Naturgedichte vor. Die unergründliche Schwermut der Zypressen, die heitere Pracht von Obst­baumalleen an den Wegen, die rätselhafte Regentschaft des Hüpfers Zaun­könig, die Arten des Getreides und zuletzt der Colbitzer Lindenwald leuch­ten auf und verführen zum Träumen. Hier rundete sich auch thema­tisch die Jahrestagung. Ein Gruppenphoto und das Mittagsmahl beschlossen das Zusammensein. Alle waren sich einig darin, eine vielstimmige und doch in sich zusammen wohlklingende Tagung verbracht zu haben.

Sebastian Hennig
am 11. April 2016